Ein chiropraktischer Blick auf Binge-Watching
Regeneration ist ein unerlässlicher Bestandteil gesunder Lebensführung. In der Chiropraktik gilt die Fähigkeit zur Regeneration in Anlehnung an Hippokrates als eine der fünf Säulen der Gesundheit. Chiropraktische Behandlungen setzen dafür auch auf das Beheben von Subluxationen, um im Körpersystem Stress zu reduzieren. Und was ist mit dem ganz normalen Alltag? Zur Entspannung auf das Sofa lümmeln und einfach mal ein wenig durch einen Film unterhalten lassen? Das kann durchaus eine zulässige Strategie sein – wenn sie wirklich einen Beitrag zur Entspannung leistet.
Nach Untersuchungen von Martin Seligman, einem führenden Forscher auf dem Gebiet der positiven Psychologie an der Universität von Pennsylvania, ist das Erleben positiver Emotionen einer der Bausteine für unser Wohlbefinden. Wohlfühlsendungen im Fernsehen können daher positive Emotionen durchaus verstärken. Wenn wir uns gut fühlen, öffnet sich unser Geist und unser Bewusstsein erweitert sich, sodass wir besser in der Lage sind, kreativ zu denken. Als unmittelbare Folge davon wird ein Dominoeffekt psychologischer Prozesse in Gang gesetzt, der schrittweise positive Ressourcen wie z.B. Resilienz aufbaut, auf die man in Zeiten der Not zurückgreifen kann.
Wichtig ist, das Erlebnis zu genießen, anstatt sich zum sogenannten Binge-Watching hinreißen zu lassen. Als Binge-Watching gilt, wenn mehr als zwei Episoden einer Fernsehserie hintereinander weg angesehen werden. Denn in den letzten Jahren hat sich die Art und Weise, wie die Menschen Medien konsumieren, erheblich verändert. Streaming-Plattformen ermöglichen es Zuschauenden, ganze Staffeln hochwertiger Sendungen direkt nacheinander anzusehen.1
Eine Tendenz, die gerade unter den Bedingungen der Pandemie mit abnehmenden Außenaktivitäten befördert wurde. So verzeichneten Netflix und Amazon allein in Deutschland 2020 zusammen einen Zuwachs von rund vier Millionen neuer Abonnements. Drei Viertel der deutschen Haushalte haben mittlerweile mindestens ein kostenpflichtiges Abonnement für einen Streamingdienst abgeschlossen. Die gängigen Streamingdienste sind besonders bei 24- bis 35-Jährigen populär.2
Mehrere aktuelle Studien hinterfragen kritisch, ob Binge-Watching Ähnlichkeiten mit Substanz- oder Verhaltenssüchten aufweist. Es kann beispielsweise dazu führen, dass Pflichten vernachlässigt oder sogar negative soziale oder gesundheitliche Folgen wie schlechte Schlafgewohnheiten, mangelnde Bewegung oder ungesundes Essverhalten befördert werden. Es stellt sich also vor allem die Frage, wie wir mit dem Impuls, weiterzuschauen, umgehen.3
Laut Mark Griffiths, Professor für Verhaltenssucht an der Nottingham Trent University, sind es sechs Anzeichen, die zusammen für eine Sucht sprechen:
- Binge-Watching ist die wichtigste Sache im Leben der Person (Salienz)
- Die Person betreibt Binge-Watching, um ihre Stimmung zuverlässig zu verändern: um sich kurzfristig besser zu fühlen oder um vorübergehend vor etwas Negativem in ihrem Leben zu fliehen (Stimmungsänderung)
- Binge-Watching beeinträchtigt wichtige Aspekte des Lebens der Person wie Beziehungen, Ausbildung oder Arbeit (Konflikt)
- Die Anzahl der Stunden, die die Person täglich mit Binge-Watching verbringt, hat sich im Laufe der Zeit deutlich erhöht (Toleranz)
- Die Person leidet unter psychologischen und/oder physiologischen Entzugssymptomen, wenn sie nicht mehr fernsehen kann (Entzug)
- Wenn es der Person gelingt, das Binge-Watching vorübergehend einzustellen, fällt sie bei erneuter Aufnahme der Aktivität direkt in den vorherigen Zyklus zurück (Rückfall)
Wie viele andere Verhaltenssüchte, z.B. Sexsucht, Arbeitssucht und Bewegungssucht, ist auch die Binge-Watching-Sucht in keinem psychiatrischen Handbuch offiziell anerkannt. In einer amerikanischen Studie wurde aber festgestellt, dass dieses Verhalten mit Depressionen und Bindungsangst verbunden ist.
Was ist also zu tun? Zunächst: Ehrlich zu sich selbst sein. Wie viele der oben genannten sechs Aspekte finden sich im eigenen Verhalten wieder? Besteht nur Änderungsbedarf beim Sehverhalten, dann gibt es zunächst einfache Tipps: Statt bis zum Ende der Folge zu schauen, die meist eine spannende erzählerische Brücke baut, sogenannte Cliffhanger, lieber in der Mitte aufhören zu schauen. Hilfreich ist auch Gemeinsamkeit. Einfach während des Schauens mit anderen im Kontakt zu stehen, tatsächlich zusammen gucken oder in Pandemiezeiten virtuell gemeinsam zu schauen und sich dazu auszutauschen, um nicht komplett abzutauchen.
Der Unterschied zwischen einem gesunden Enthusiasmus und einer Sucht besteht laut Mark Griffiths darin, dass Ersteres das Leben bereichert, während Letzteres davon ablenkt.4 Wenn wir Ersteres für uns bejahen können, so können wir auch mit Streaming und Fernsehen zumindest teilweise die Säule Regeneration – ganz im Sinne der in der Chiropraktik so wichtigen 5 Säulen der Gesundheit – ausfüllen.
Quellen (zuletzt aufgerufen am 23.03.2022):
(1) https://theconversation.com/how-watching-tv-in-lockdown-can-be-good-for-you-according-to-science-156147
(2) https://www.ard-media.de/fileadmin/user_upload/media-perspektiven/pdf/2021/2102_Birkel_ua.pdf
(3) https://www.frontiersin.org/articles/10.3389/fpsyt.2021.743870/full
(4) https://theconversation.com/are-you-binge-watching-too-much-how-to-know-if-your-tv-habits-are-a-problem-and-what-to-do-about-it