Mentale sowie neurologische Positiveffekte von Bewegung und der chiropraktische Blick
Wie sehr vielen anderen medizinischen Professionen begegnet auch uns Chiropraktiker*innen immer wieder die Idee der einen Tablette. Die den Schmerz wegmacht, die alles wieder ins Lot bringt. Diesen Glauben an pharmazeutische Lösungen für unsere körperlichen oder gesundheitlichen Probleme instrumentalisiert der amerikanische Arzt und Neurobiologe Arash Javanbakht im Umgang mit verschiedensten Patientengruppen: Er etablierte dafür den Begriff der „Bewegungstablette“.
Als Direktor der Forschungsklinik für Stress, Traumen und Angstforschung der Wayne State University musste er dafür erst selber die Erfahrung machen, dass die Empfehlung von körperlicher Aktivität für Patient*innen mehr ist als eine ärztliche Pflichtübung. In einem Artikel aus dem März 2021 schildert er, dass Boxen ihm die Augen geöffnet habe, da er die positiven Auswirkungen auf seine Psyche erlebte. Darüber hinaus begann er, die Auswirkungen von Tanz- und Bewegungstherapien auf Traumata und Ängste bei Flüchtlingskindern zu erforschen. Aus diesen Erfahrungen heraus begann er sich zunehmend mit der Neurobiologie von Bewegung zu beschäftigen.
So überzeugte er sich selbst im klinischen Alltag von der Wirksamkeit körperlicher Betätigung als heilsame Intervention und begann in seinem Verschreibungsalltag Patient*innen zu verordnen, sie sollen ihre „Bewegungstabletten“ nehmen. Inzwischen verpflichten sich wohl nahezu alle seiner Patient*innen zu einem gewissen Maß an Bewegung. Prägend dafür ist seine entschiedene Empfehlung, gespeist aus der Beobachtung, wie sehr alle davon in verschiedenen Bereichen ihres Lebens und ihrer Existenz profitieren.
In der chiropraktischen Tradition drückt sich die gleiche Erkenntnis im Rückbezug auf die sogenannten 5 Säulen der Gesundheit aus. Sie gehen auf die Lehren des griechischen Arztes Hippokrates zurück, der sie bereits vor rund 2.500 Jahren benannte. Eine davon: Bewegung.
„Wohlgetan ist es, die Gesunden sorgfältig zu führen, damit sie nicht krank werden “ – Hippokrates von Kós
Hirnbiologie und Wachstum
Regelmäßiges Training verändert die Hirnbiologie, es ist nicht nur ein: „Geh spazieren und du wirst dich besser fühlen.“ Insbesondere Cardio- bzw. Ausdauertraining gestaltet nachweislich das Gehirn – denn es ist ein sehr plastisches Organ. Es werden nicht nur jeden Tag neue neuronale Verbindungen gebildet, sondern auch neue Zellen in wichtigen Bereichen des Gehirns. Einen Schlüsselbereich bildet dabei der Hippocampus, der entscheidend an Lernvorgängen, Gedächtnisleistungen und der Regulierung negativer Emotionen beteiligt ist. Ein Molekül namens Brain-Derived Neurotrophic Factor (BDNF) hilft dem Gehirn bei der Produktion von Neuronen, also Gehirnzellen. Eine Reihe von aeroben und hochintensiven Intervalltrainingsübungen erhöhen den BDNF-Spiegel signifikant.
Moderates Training scheint auch entzündungshemmende Effekte zu haben, die das Immunsystem und übermäßige Entzündungen regulieren. Dies ist wichtig angesichts der neuen Erkenntnisse der Neurowissenschaft über die mögliche Rolle von Entzündungen bei Angst und Depressionen, ganz zu schweigen von verbesserten Immunreaktionen.
Bewegung als Antidepressivum
Darüber hinaus gibt es Belege für die positiven Auswirkungen von Bewegung auf die Neurotransmitter. Sie sind als Gehirnchemikalien daran beteiligt, die Signale von Neuron zu Neuron zu senden, zum Beispiel Dopamin und Endorphine. Beide sind wichtig für unsere Motivation und eine positive Einstellung. Körperliches Training ist eine solide erforschte und erstaunlich gute Behandlung bei Angstzuständen. Es wurden zahlreiche Untersuchungen dazu durchgeführt und sogar mehrere Metaanalysen – Studien über die Ergebnisse anderer Studien. In einer Untersuchung befassten sich die Wissenschaftler*innen speziell mit dem Nutzen von Heimtrainern. Demnach zeigte sich bei der Mehrheit der Teilnehmenden ein Zuwachs an Energie, und zugleich fühlten sie sich entspannter. Hirnforscher David Servan-Schreiber betont dabei: „Mehrere Untersuchungen sprechen dafür, dass der positive Effekt von Bewegung, auch in geringer Intensität, umso rascher spürbar wird, je weniger Kondition jemand hat, das heißt, je mehr sein Leben bisher von zu schweren Mahlzeiten, Bewegungsmangel und stundenlangem Fernsehen geprägt war.“
Quelle: Die neue Medizin der Emotionen: Stress, Angst, Depression: Gesund werden ohne Medikamente von David Servan-Schreiber
Forscher haben auch die Auswirkungen von Bewegung auf messbare Gehirnfunktionen und Symptome von Depressionen und Angstzuständen untersucht. Bewegung verbessert die Gedächtnisfunktion, die kognitive Leistungsfähigkeit und die schulischen Leistungen. Studien deuten auch darauf hin, dass regelmäßiges Training eine moderate Wirkung auf depressive Symptome hat, die sogar mit einer Psychotherapie vergleichbar ist.
Quelle: Exercise for depression – Cooney, GM – 2013 | Cochrane Library
Homeoffice, Alltag und andere Hindernisse
Immer mehr Forschungsergebnisse belegen, dass ein moderates, aber regelmäßiges Training die besten Ergebnisse erzielt.
Quelle: Mental health review of reviews (BJSM 2011) (IR 25-1-16).pdf (vu.edu.au)
Ein Dreiklang verdeutlicht, wie jede*r davon profitieren kann: Erkenntnis, Einsicht und Einsatz. Ohne das Wissen, wie wichtig Bewegung ist, folgt keine Veränderung. Daher legen Chiropraktiker*innen so viel Wert auf die Aufklärung und Information ihrer Patient*innen. Dennoch brauchen die meisten Menschen einen Auslöser, leider häufig bereits eine Schmerzsymptomatik, um sich auf den Weg zu einem gesünderen Leben zu machen. Aber auch ohne Symptome lohnt sich vorab ein Check in einer chiropraktischen Praxis, um bestmöglich für Veränderungen bereit zu sein. Zum einen, um mechanische Blockaden zu beheben, vor allem aber, um durch Justierungen eine möglichst störungsfreie Hirn-Körper-Kommunikation zu unterstützen.
Letztlich können auf diesem Weg auch kleine Schritte im alltäglichen Leben -– vor allem bei sitzender Tätigkeit – schon sehr hilfreich sein:
- Stehen oder Hin- und Hergehen bei Video-Calls und Telefonkonferenzen statt zu sitzen
- Feste Pauseneinheiten, am besten jede halbe Stunde für zwei Minuten, mit Erinnerungen zum Beispiel über einen Timer auf dem Smartphone
- An die frische Luft zu gehen, anstatt noch einen Kaffee am Schreibtisch zu trinken
Und um einen Sport für sich zu finden, lohnt es sich, offen zu sein. Herauszufinden, welche Bewegungsart zu einem selbst passt, macht auch schon Spaß. Lieber mal etwas ausprobieren und wieder sein lassen, als nichts zu tun. Ganz im Sinne von Hippokrates, den Überzeugungen der Chiropraktik und des Neurobiologen Arash Javanbakht: Nehmen Sie regelmäßig Ihre „Bewegungstablette“ – immer mit dem Ziel vor Augen, ihr Wohlbefinden zu steigern und ihr Gehirn zu schützen.